Der junge Willy spielte Kasperltheater

Mitglied der Roten Falken war auch der junge Willy Brandt, der damals noch Herbert Frahm
hieß. An der ersten Kinderrepublik 1927 in Seekamp bei Kiel nahm er nicht teil. Der Besuch
des Namedyer Lagers 1929 beeindruckte den 15-Jährigen dann sehr:

"Dies war meine erste größere Reise in Deutschland. Das Industrierevier prägte sich mir ein, Köln mit  
dem Dom, vor allem die Fahrt gen Koblenz. Die meisten jungen Leute hatten damals keine Gelegenheit  
zu großen Reisen... Aus Lübeck waren wir mit knapp hundert Teilnehmern nach Namedy gekommen; ich
schon nicht mehr als Falke, sondern als Junghelfer. Deshalb konnte ich nicht, wie es vorgeschlagen worden
war, zum Vorsitzenden des Lagerparlaments gewählt werden. Statt dessen trug ich mit einem Kasperle-
theater zur Lagerunterhaltung bei. Dort gab ich für den Berliner Rundfunk mein erstes Interview. Viele
werden es nicht gehört haben, Radios waren selten."

Mochte das Echo im Berliner Rundfunk auch positiv sein, so waren die Reaktionen in der
Gesellschaft und auch vor Ort, in Andernach, häufig feindselig. Koedukation, politische
Erziehung, sozialistische Ziele, Pazifismus waren Konservativen und Klerikern ein Dorn im
Auge. Behinderungen, Einschüchterungen, Hetze in den Lokalzeitungen waren vor allem im
katholischen Süden Deutschlands üblich. Sogar der Papst prangerte die Kinderfreunde an.
Eine Teilnehmerin erinnert sich an das Zeltlager in Namedy:

"Auf Namedy haben die Katholiken von gegenüber mit Ferngläsern rübergeguckt und haben dann wüste
Artikel in der Zeitung geschrieben von dem wüsten Treiben, dem amoralischen, unsittlichen Treiben in   
der Kinderrepublik. Mädchen und Jungen im Badezeug zusammen im Wasser!"
Das Ende der Sozialromantik: Ab 1933 wehten statt roter Fahnen Hakenkreuzfahnen über dem Werth.
Doch die Roten Falken haben die Nazis überlebt. Ihre Sommerzeltlager finden immer noch statt, zwar nicht
mehr in Namedy, aber an anderen schönen Orten in Deutschland.                           
"Wir sind das Bauvolk der
kommenden Welt
Wir sind der Sämann, die Saat
und das Feld.
Wir sind die Schnitter der
kommenden Mahd
Wir sind die Zukunft und wir
sind die Tat."
Lied der Roten Falken
"Himmlisch, so ein Fernglas..."
Foto aus: das weltenrad sind wir!
arbeiterjugend-verlag, Berlin 1931
 
 
Im Auftrag des Herrn
unterwegs
Kein Schutz vor Angriffen durch die SA

1931 versuchte der Regierungspräsident von Koblenz, die Gemeinschaftszelte für Jungen und
Mädchen zu verbieten. Doch die Kinderfreunde verstanden es offenbar, für sich Reklame zu
machen. Sie notierten selbstbewusst, dass sie "mit einem tadellosen und schönen Marsch
durch die Stadt" die Achtung der Bevölkerung erlangt hätten: "Da kamen nicht die angekün-
digten verwahrlosten Horden, sondern wohl disziplinierte Gruppen von Arbeiterkindern"
(Franz-Josef Heyen, in: Andernach. Geschichte einer rheinischen Stadt). Ob die Bevölkerung
auch, wie in Seekamp und anderen Lagern, Nahrungsmittel spendete, ist dem Autor nicht
bekannt.

Allerdings nutzte die Sympathiewerbung wenig. Laut Rolf Schulte (Von Kindern und "Kinder-
republiken") waren die Falken bei ihrem letzten Treffen in Namedy schon ständig tätlichen
Angriffen durch die SA ausgesetzt. 1933 wurde die Bewegung der Kinderfreunde von den
Nazis verboten. Kurt Löwenstein musste ins Exil gehen; er starb 1939 in Paris. Und Herbert
Frahm? Damals Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei, floh er 1933 nach Norwegen,   
um eine ausländische Zelle der SAP aufzubauen. Er nannte sich von jetzt an Willy Brandt und
wurde zu dem Ex-Falken, der am höchsten fliegen sollte. Der Flug der anderen wurde jäh
gestoppt, ihre Flügel unwiederruflich gestutzt. Doch sind sie eine schöne Erinnerung an eine
Zeit, als sich der Sozialismus noch "als konsequent verwirklichte demokratische Freiheit
darstellte" (Willy Brandt).
Blauhemden bekamen rote Backen

Am Ende des Zeltlagers zeigten die Blauhemden eine frische Gesichtsfarbe und hatten "fast
alle zugenommen", wie ein zeitgenössischer Chronist berichtet. Das erinnert daran, dass
"nicht geringe Teile der arbeitenden Menschen in unseren Breiten bis weit ins zwanzigste
Jahrhundert durchweg unterernährt waren" (Willy Brandt in seiner Autobiographie Links  
und frei).

Träger der sozialistischen Kinderrepubliken war die Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinder-
freunde, eine Gliederung in der SPD. Sie wurde von dem Berliner Schulrat und jüdischen
Reichstagsabgeordneten Dr. Kurt Löwenstein geleitet. Die Kinderfreunde nahmen die Ideen
der Roten Falken aus Österreich auf und bildeten altersgerechte Gruppen. An den Lagern
nahmen vor allem die zehn- bis zwölfjährigen Falken teil. Löwenstein, der Erfinder der
Kinderrepubliken, gilt heute als ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik.
Das Lagerparlament ernannte "Minister"

In der Mitte des Lagerplatzes wehte die rote Fahne. Die Aufschrift auf der Lagerglocke
lautete: "Nie wieder Krieg!" Der Tag begann mit Wecken per Horn, dann Schwimmen im
Rhein, dann Frühstück, und zwar reichlich: sechs Scheiben Brot für jedes Kind! Alles im
Lagerleben lief nach Regeln ab, die die Kinder selbst bestimmten. In einem Lagerparlament
wurden Fragen des Zusammenlebens entschieden und "Minister" ernannt. "Die Staatsgewalt
geht vom Kinde aus", hieß eine Parole, eine zweite: "Unser Zeltlager ist eine Republik".
Oder: "Unsere Kinderrepubliken sind sozial und sie sind demokratisch. Jeder kann mitbe-
stimmen und dafür sorgen, dass es noch besser wird." Die aus den Großstädten angereisten
Arbeiterkinder sollten sich nicht nur in schöner Umgebung erholen. Sie sollten auch als 
aktive Mitglieder einer Gemeinschaft politische Mündigkeit erlangen.
 
© 2009-2023 Wolfgang Broemser
"Welch ein Jubel war in uns! Kaum
konnten wir den Tag erwarten, an
dem es losgehen sollte. Manche
Eltern guckten verzagt drein. Aber
wir Buben und Mädel kümmerten
uns den Deubel um die Sorgen
unserer Eltern. Fort ging es, hinaus            
in die Welt, in die Kinderrepublik..."
Erster Falke, 1926
Eine so große Invasion junger Menschen wie in den Sommermonaten 1929 bis1932 hat das
Namedyer Werth nie wieder erlebt. Heute ist die Halbinsel ein Vogelschutzgebiet  und von
einem Auenwald bewachsen; nur der Bereich des neu erbohrten Geysirs ist zugänglich. Man
kann sich kaum vorstellen, dass hier einmal bis zu 1800 tatendurstige Kinder, unter ihnen der  
junge Willy Brandt, ihre Zelte aufschlugen. Vier Jahre lang fanden auf einer großen, pappel-
gesäumten Freifläche die Kinderrepubliken der Roten Falken statt. Mehr als 50 Jahre vor 
dem Song von Herbert Grönemeyer waren hier die Kinder an die Macht gekommen -      
und verloren sie wieder, als die Nazis an die Macht kamen.
"Gebt den Kindern das Kommando..."